Impressum
 
  >Startseite >Reisebericht
erste Seite Seite zurück   1 2 3 4 5   Seite vor letzte Seite  
 
    R e i s e b e r i c h t-S e i t e  2
 
 
 
M e n u e
 
 
 
   
 
   
Bolivien - Aufbruch ins Abenteuer
 
 
 
 

Erster Tag

Am frühen Morgen brechen wir auf, unser eigentlicher Aufbruch ins Ungewisse beginnt heute, der gestrige Tag war ja nur die Anreise zum Ausgangspunkt. Zuerst einmal müssen wir wegen Jose's Schuhen nach Pelechuco absteigen, das bedeutet einen beträchtlichen Umweg. Nach 15 Jahren Bolivien bekommt man aber wegen so was keine Wutanfälle mehr, ich habe es auf vielen Unternehmungen gelernt die Nerven zu behalten und zu improvisieren. Am Dorfrand von Pelechuco steht ein Schild mit der Aufschrift >>Kreisstadt der Provinz Canaria<<. Ich schätze die Einwohnerzahl auf etwa achthundert Indios der Quechua Nation. Dieses Volk hat eine völlig andere Sprache und Kultur als die Aymara Nation des zentralen Altiplano. Bolivien ist ein großes und geheimnisvolles Land. Das Dorf besteht aus einfachen Lehm- und Steinhütten, die sich um einen quadratischen, mit Kopfsteinen gepflasterten Marktplatz scharen. Hinter dem Dorf hört die Strasse einfach auf, dort ist das sichtbare Ende der mir bekannten Welt. Hier steht auch unser Bus von gestern, er nimmt sich in dieser ländlichen Umgebung so krass wie der falsche Ton in einem klassischen Meisterkonzert aus. Ein sehr nützlicher falscher Ton muss man dazu sagen! Zu unserem Glück gibt es drei offene Kramerläden und in einem finden wir, auch wieder mit viel Glück, passende Kichutes, robuste chinesische Billigturnschuhe, für Jose. Wir sind beide erleichtert, denn wenn wir die Turnschuhe nicht aufgetrieben hätten wäre ich aus Sicherheitsgründen gar nicht erst losgegangen. >>Das passiert mir nie wieder<< seufzt Jose mit treuem Hundeblick. >>Die Schuhe ziehe ich Dir vom Lohn ab<< antworte ich. Damit ist der Fall für mich erledigt. Wir gehen ein Stück weit aus dem Dorf hinaus, damit Jose ohne neugierige Zuschauer seine Schuhe wechseln kann. Wie immer vor großen, unbekannten Unternehmungen befallen mich Zweifel, die vom unsicheren Wetter und dem Zeitverlust durch den Umweg vervielfacht werden. Auf inszenierten Pseudoabenteuern, die heute in Europa so modern sind, gibt es keine Selbstzweifel - weil sie nicht echt sind. Ihr einziger Wahrheitsgehalt ist die Lüge. Was kommt dabei heraus? Ein Berg von Missverständnissen, produziert von Leuten, die sich profilieren wollen um jeden Preis und selten von irgendetwas anderem als sich sehr gut zu vermarkten eine Ahnung haben. Von unserer Tour weiß außer Fabiana, Jose's Frau, niemand etwas und das ist auch gut so. Wir sind weder schön noch cool, aber wir und unsere Trips sind echt, worauf wir auch großen Wert legen. Wir brauchen keinen Beifall und müssen uns nichts beweisen, das macht es uns einfach, ohne Druck einen guten Job zu machen. Warum wir Abenteurer mit Leib und Seele sind? Unterwegs zeichnen wir mit unseren Füßen eine ästhetisch schöne Route auf den Boden und stellen uns damit eine und keine Frage: >>Wohin kommen wir, wenn wir gehen?<< Dabei bearbeiten wir mit unseren Lungen den flüchtigsten aller Werkstoffe: Die Luft. Die Antwort auf unsere Frage liegt auf dem Weg und erklärt sich unterwegs von selbst. Unser Handeln ist einfach, direkt und effektiv. Würde jemand diese Kunst auf ein Blatt Papier bannen wollen, dann müsste er ein leeres Blatt zeichnen. Fragt ein Außenstehender nach unseren Beweggründen, so können wir sie unmöglich in starre Formen, wie Worte es sind, fassen. Ein Leben in Freiheit lässt sich nicht zu Papier bringen. Das lebt nur in einem drinnen. Für immer.

Nachdem Jose die neuen Schuhe angezogen hat kann es endlich richtig losgehen, zuerst laufen wir uns in gemäßigtem Tempo warm, dann traben wir hinein in den Zustand eines ungewissen Abenteuers. Alle Zweifel lösen sich unter meinen Schritten auf. Wir legen ein beträchtliches Tempo vor, die Lungen füllen sich mit Sauerstoff und wir beginnen trotz Kälte zu schwitzen. Alles gerät in Bewegung, wir leben mit unwahrscheinlicher Intensität. Einen Moment lang geht der Nebelvorhang auf und gibt den Blick auf eine unendlich weite Bühne frei: Namenlose majestätische Andenberge und tief eingeschnittene Täler soweit das Auge reicht. Ich rufe innerlich vor Freude und sage dennoch kein Wort. Die Beklemmung, die sich in großen Städten wie La Paz regelmäßig um meinen Hals legt wie ein zentnerschwerer Mühlstein, fällt von mir ab und weicht einer unbändigen Lebensfreude. Der Nebelvorhang schließt sich wieder und gleichzeitig beginnt es heftig zu regnen. Wir legen unsere Regenponchos an und ziehen weiter, der unablässige Regen macht uns keine Angst, er ist ein Teil der Natur wie die Sonne, der Mond und die Sterne. Zwei oder vier Stunden später steigt die Wolkendecke und gibt eine märchenhafte Almwiese frei, unmittelbar hinter ihr steigt bläulich weiß ein bizarrer Hängegletscher in die Höhe. Wir müssen also schon ziemlich hoch gekommen sein. Der Regen hat ganz aufgehört und die Wolkenwand über uns bekommt Risse, durch die goldene Sonnenstrahlen sickern. Der große Geist, der alles durchdringt und dessen Wege der Mensch nur ahnen kann, hat diesen Zauber geschaffen. Ein kalter Fallwind treibt mächtige Wolkengebilde wie eine Schafherde vor sich her, die in alle Richtungen auseinanderstiebt, während wir die Schneegrenze überschreiten. Wortlos treten wir, uns in der Führung abwechselnd, eine Spur in den tiefer werdenden Neuschnee, der uns nach kurzer Zeit bis unter die Knie reicht. Hin und wieder kommt die Sonne hinter den Wolken hervor und lässt die Schneedecke funkeln wie einen Teppich aus glitzernden Diamanten. Um uns die Augen nicht zu verblitzen von soviel Glanz setzen wir unsere Gletscherbrillen auf. Sobald Jose hinter mich zurücktritt, um mir für eine Weile die Spurarbeit zu überlassen, treibt mir der Wind spitze Schneekristalle ins Gesicht, die auf der Haut prickeln wie tausend kleine Nadeln. Nachdem mich Jose wieder vorne abgewechselt hat kann ich mich in seinen Windschatten ducken und in der vorgetretenen Spur wieder Kräfte sammeln. So geht es hin und her. Der Schnee zehrt an den Kräften, aber wir kommen dennoch zügig voran und verlangsamen unser Tempo nur wenig. Ein schneidend kalter Windstoss reißt meinen Poncho hoch und wickelt ihn um meinen Hals, was Jose sehr lustig findet. Schweren Schrittes und in der dünnen Höhenluft nach Atem ringend nähern wir uns der Passhöhe, sie mag wohl auf etwa 5.300 Meter Meereshöhe liegen. Dann endlich sind wir ganz oben. Wir entschließen uns zu einer kurzen Verschnaufpause und schauen von der endlosen Schneewelt auf sich ins unendliche fortsetzende Gebirge, die sich in alle Richtungen erstrecken. Ein wundersames Märchenland fernab der Täler. Plötzlich sehen wir von der gegenüberliegenden Passseite einen untersetzten Mann in Sandalen auf uns zukommen, der durch Felsen vor uns verborgen geblieben war. Auf dem Rücken trägt er eine schwere Last, seine tief in die Stirn gezogene Inkamütze verdeckt die Hälfte des Gesichts und der dicke erdbraune Wollpullover besteht fast nur noch aus Flicken. Die dünne Wollhose reicht ihm nur bis knapp unter die Knie, was nicht gerade die ideale Bekleidung für dieses kalte Wetter sein kann. Wir stehen auf, nähern uns ruhig und geräuschvoll, um dem in Gedanken versunkenen und sichtlich müden Mann unsere friedliche Absicht zu demonstrieren anstatt ihn unnötig zu erschrecken. Als er nahe genug heran ist grüssen wir ihn, er kommt auf uns zu. Sobald er ohne sein Bündel abzunehmen direkt vor uns steht bemerke ich erst, wie sehr der arme Kerl mit den unbedeckten, vom Schnee zwetschgenblauen Waden in seiner leichten Bekleidung friert. Er muss wohl aus irgendeiner wärmeren Gegend kommen, in der warme Anziehsachen nicht oft gebraucht werden. Der Mann ist einen guten Kopf kleiner als ich, also etwa 1,60m groß. Sein Gesicht ist breit und von markanter Form, aber die Backenknochen sind bei weitem nicht so hoch wie bei Jose, seine Haut ist wesentlich heller als die eines Aymara und er wirkt trotz seiner kleinen Statur behende und kräftig. Wir fragen ihn nach dem richtigen Weg. Zuerst spricht er in Quechua, bemerkt aber seinen Irrtum sofort an unseren fragenden Mienen und spricht in gebrochenem Spanisch weiter. Die Quechua sind die Nachfahren der großen Inkas, welche einst ein Weltreich regierten und unter denen die Aymaras die unterdrückte Dienerklasse waren. Das hat sich nach Ankunft der spanischen Conquistadores grundlegend geändert. Der Quechua erklärt uns, wie weit wir seiner Spur folgen und wo wir talwärts abbiegen müssen. Der Himmel hat uns diesen Mann zur rechten Zeit geschickt, diese Information erspart uns lange Umwege. Wir bedanken uns mit einer Maissemmel aus Jose's Rucksack, die dankend angenommen wird. Dann ziehen wir in entgegengesetzter Richtung talabwärts. Unsere Begegnung war so flüchtig wie der Schatten, den ein vorüberfliegender Vogel auf einen Bergsee wirft. Wir wandern in eine unergründliche Einsamkeit hinein. Die Stelle, wo wir aus der in den Schnee getretenen Spur des Mannes ausscheren müssen, ist bald gefunden, Jose ist sich aber dennoch nicht ganz sicher, ob wir richtig sind. Jetzt gibt es niemand mehr, den wir fragen können. Vorbei an glasklaren Gletscherseen, eingebettet in eine wilde Hochgebirgslandschaft, steigen wir steil abwärts und lassen den Schnee hinter uns. Sollten wir falsch abgebogen sein bedeutet dies, dass wir irgendwann den ganzen langen Weg zur Spur des Quechua zurückgehen und von neuem die Abzweigung suchen müssten. Wir hoffen, dass wir uns das nicht antun brauchen, es würde uns einen Tag kosten. Bei einem glucksenden Bach machen wir Rast, es ist ja schon weit über Mittag. Wir packen das Kaniawa Pulver aus und rühren uns mit Bachwasser einen dicken schwarzen Brei, in den wir Zucker mischen. Als Dreingabe gönnen wir uns jeder eine selbstgebackene Maissemmel aus Jose's Rucksack. Um unseren Durst zu stillen haben wir Wasser in Fülle. Jemand, der von europäischer Hygiene verwöhnt und nur Mineralwasser gewöhnt ist darf unter keinen Umständen rohes Wasser trinken, er würde schwer krank davon werden. Wir wissen das natürlich und wenn wir mit Kunden unterwegs sind kochen wir alles ab und achten auch sonst sehr auf Hygiene. Wenn wir allerdings unter uns sind reisen wir ganz anders, es sieht uns ja niemand zu... Immer noch unsicher wegen der eingeschlagenen Richtung brechen wir bald wieder auf und steigen tief hinab in ein nicht enden wollendes Tal. Die Wolken haben sich ganz verzogen und der freie Blick auf namenlose Eisberge, die sich nach den für diese Jahreszeit außergewöhnlich ergiebigen Niederschlägen in makellosem weiß zeigen, ist überwältigend. Die Vegetation wird mit abnehmender Höhe immer üppiger und grüner. Sind wir richtig? Ein leiser Zweifel begleitet uns bei jedem Schritt. Plötzlich, wie aus dem Nichts, tauchen ein paar Hütten vor uns auf. Wo sind wir? Wir sehen einen Mann und eine Frau, die das Strohdach ihrer Lehmhütte ausbessern. Sie bestätigen uns, dass wir richtig sind und der Mann klettert extra vom Dach herunter, um uns die Richtung, in der Calestia liegt, zu zeigen. Eine Stunde später erreichen wir unser Tagesziel. Calestia wurde uns viel größer geschildert und so haben wir es uns dementsprechend anders vorgestellt. In der Realität besteht es lediglich aus vier bewohnten Lehmhütten, einigen verlassenen Ruinen und einer stattlichen, halbverfallenen Kirchenruine. Woher mag wohl die schwere Kupferglocke im Kirchturm einmal gekommen sein? Wir können es uns nicht erklären und sie kann uns ihr Geheimnis nicht erzählen. Als nächstes benötigen wir dringend eine Bleibe für die Nacht. Ein bisschen befangen gehen wir zwischen den Häuschen durch und sehen uns um. Eine Quechua Familie mit drei halbwüchsigen Kindern sitzt am unteren Dorfrand im Kreis um eine offene Feuerstelle vor ihrer Hütte, zwischen ihnen und uns grast eine kleine Ziegenherde. Wir gehen auf die Hütte zu, die Ziegen nehmen meckernd Reißaus, in respektvollem Abstand bleiben wir stehen und Jose fragt höflich, ohne die Stimme laut zu erheben, nach Quartier, während ich stumm bleibe. Diese Vorgehensweise hat sich auf hunderten von Erkundungsfahrten bewährt, in fremden Dörfern lässt es sich trotzdem nie vorhersehen, wie du empfangen wirst. Ein großer schwarzer Hund kommt von irgendwoher in vollem Lauf direkt auf uns zugeschossen, ich halte den Atem an. Kurz vor mir bremst er ab und wedelt mit dem Schwanz, womit er seine Freude über unser Kommen Ausdruck gibt. Ich gebe es ungern zu, aber einen Moment lang bin ich fürchterlich erschrocken, auch Jose schnauft erleichtert aus und lässt meinen Arm los, den er schmerzhaft fest gepackt hielt. Der Hund springt an mir hoch und leckt mir die Hände, worauf das Familienoberhaupt lachend zu uns herüber grüßt. Das Eis ist gebrochen, wie schön, wir sind willkommen. Der Mann hat tausend Fragen, wir sind für ihn wie eine Zeitung mit Neuigkeiten aus der Außenwelt, von der er lange nichts gehört hat. Soweit wir können geben wir gerne Auskunft. Nach einem Restaurant brauchen wir gar nicht erst zu fragen, aber Geronimo, so heißt der Familienvater, lädt uns mit großzügiger Geste zum geselligen Abendessen ein. Beim Essen tauen auch die bisher stummen Kinder, ein Mädchen und zwei Jungs, auf. Die Frau hält sich zurück, wie es Sitte ist, fragt uns aber doch hin und wieder dies und das. Die gastfreundliche Familie und das kleine Feuer erzeugen Wärme, eine Wärme, welche die Zentralheizungen moderner Städte niemals vermitteln werden können. Das Klima ist in Calestia bereits gemäßigt und dichtes Buschwerk umgibt das an einem Hang liegende Dörfchen. Ein paar Meter vom Haus entfernt sprudelt eine Quelle aus dem Boden und nicht weit unterhalb der Hütte beginnt schon dichter Wald. Nach dem Abendessen stellen wir unser Einmann Zelt auf. Es ist zwar klein, aber wir haben unseren zweiten Wohnsitz genauso lieb wie ein Sesshafter sein Ferienhäuschen. Das Glück auf großen Wegen zu Fuß liegt in der Einfachheit. Was würden wir hier mit einem großen Zelt anfangen, welches nur eine unnütze Last auf einem beschwerlichen Weg bedeutete? Wenig ist für einen Nomaden gleichbedeutend mit viel. Geronimo zündet trockenen Ziegendung an, um mit dem sich entwickelnden Rauch die Mücken zu vertreiben während Jose und ich den zutraulichen Hund mit handgreiflichen Argumenten dazu überreden draußen vor dem Zelt zu bleiben und uns schlafen legen.Es beginnt zu dunkeln, eine Weile liegen wir noch bei geöffnetem Eingang wach im Zelt und lassen die Nacht auf uns einwirken. Der Himmel ist sternenklar. Wir haben heute eine sehr weite Wegstrecke mit 4.600 Höhenmetern im Auf- und Abstieg zurückgelegt und können mit dieser Leistung zufrieden sein.

 
  nach oben Seite zurück Seite vor
Letzte Aktualisierung: 18.03.05
  ©Travel-Fever 2001 bis 2015