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Erster
Tag
Am frühen
Morgen brechen wir auf, unser eigentlicher Aufbruch ins Ungewisse
beginnt heute, der gestrige Tag war ja nur die Anreise zum Ausgangspunkt.
Zuerst einmal müssen wir wegen Jose's Schuhen nach Pelechuco
absteigen, das bedeutet einen beträchtlichen Umweg. Nach 15
Jahren Bolivien bekommt man aber wegen so was keine Wutanfälle
mehr, ich habe es auf vielen Unternehmungen gelernt die Nerven zu
behalten und zu improvisieren. Am Dorfrand von Pelechuco steht ein
Schild mit der Aufschrift >>Kreisstadt
der Provinz Canaria<<. Ich schätze
die Einwohnerzahl auf etwa achthundert Indios der Quechua Nation.
Dieses Volk hat eine völlig andere Sprache und Kultur als die
Aymara Nation des zentralen Altiplano. Bolivien ist ein großes
und geheimnisvolles Land. Das Dorf besteht aus einfachen Lehm- und
Steinhütten, die sich um einen quadratischen, mit Kopfsteinen
gepflasterten Marktplatz scharen. Hinter dem Dorf hört die
Strasse einfach auf, dort ist das sichtbare Ende der mir bekannten
Welt. Hier steht auch unser Bus von gestern, er nimmt sich in dieser
ländlichen Umgebung so krass wie der falsche Ton in einem klassischen
Meisterkonzert aus. Ein sehr nützlicher falscher Ton muss man
dazu sagen! Zu unserem Glück gibt es drei offene Kramerläden
und in einem finden wir, auch wieder mit viel Glück, passende
Kichutes, robuste chinesische Billigturnschuhe, für Jose. Wir
sind beide erleichtert, denn wenn wir die Turnschuhe nicht aufgetrieben
hätten wäre ich aus Sicherheitsgründen gar nicht
erst losgegangen. >>Das passiert mir
nie wieder<< seufzt Jose mit treuem
Hundeblick. >>Die Schuhe ziehe ich Dir
vom Lohn ab<< antworte ich. Damit ist
der Fall für mich erledigt. Wir gehen ein Stück weit aus
dem Dorf hinaus, damit Jose ohne neugierige Zuschauer seine Schuhe
wechseln kann. Wie immer vor großen, unbekannten Unternehmungen
befallen mich Zweifel, die vom unsicheren Wetter und dem Zeitverlust
durch den Umweg vervielfacht werden. Auf inszenierten Pseudoabenteuern,
die heute in Europa so modern sind, gibt es keine Selbstzweifel
- weil sie nicht echt sind. Ihr einziger Wahrheitsgehalt ist die
Lüge. Was kommt dabei heraus? Ein Berg von Missverständnissen,
produziert von Leuten, die sich profilieren wollen um jeden Preis
und selten von irgendetwas anderem als sich sehr gut zu vermarkten
eine Ahnung haben. Von unserer Tour weiß außer Fabiana,
Jose's Frau, niemand etwas und das ist auch gut so. Wir sind weder
schön noch cool, aber wir und unsere Trips sind echt, worauf
wir auch großen Wert legen. Wir brauchen keinen Beifall und
müssen uns nichts beweisen, das macht es uns einfach, ohne
Druck einen guten Job zu machen. Warum wir Abenteurer mit Leib und
Seele sind? Unterwegs zeichnen wir mit unseren Füßen
eine ästhetisch schöne Route auf den Boden und stellen
uns damit eine und keine Frage: >>Wohin
kommen wir, wenn wir gehen?<< Dabei
bearbeiten wir mit unseren Lungen den flüchtigsten aller Werkstoffe:
Die Luft. Die Antwort auf unsere Frage liegt auf dem Weg und erklärt
sich unterwegs von selbst. Unser Handeln ist einfach, direkt und
effektiv. Würde jemand diese Kunst auf ein Blatt Papier bannen
wollen, dann müsste er ein leeres Blatt zeichnen. Fragt ein
Außenstehender nach unseren Beweggründen, so können
wir sie unmöglich in starre Formen, wie Worte es sind, fassen.
Ein Leben in Freiheit lässt sich nicht zu Papier bringen. Das
lebt nur in einem drinnen. Für immer.
Nachdem Jose
die neuen Schuhe angezogen hat kann es endlich richtig losgehen,
zuerst laufen wir uns in gemäßigtem Tempo warm, dann
traben wir hinein in den Zustand eines ungewissen Abenteuers. Alle
Zweifel lösen sich unter meinen Schritten auf. Wir legen ein
beträchtliches Tempo vor, die Lungen füllen sich mit Sauerstoff
und wir beginnen trotz Kälte zu schwitzen. Alles gerät
in Bewegung, wir leben mit unwahrscheinlicher Intensität. Einen
Moment lang geht der Nebelvorhang auf und gibt den Blick auf eine
unendlich weite Bühne frei: Namenlose majestätische Andenberge
und tief eingeschnittene Täler soweit das Auge reicht. Ich
rufe innerlich vor Freude und sage dennoch kein Wort. Die Beklemmung,
die sich in großen Städten wie La Paz regelmäßig
um meinen Hals legt wie ein zentnerschwerer Mühlstein, fällt
von mir ab und weicht einer unbändigen Lebensfreude. Der Nebelvorhang
schließt sich wieder und gleichzeitig beginnt es heftig zu
regnen. Wir legen unsere Regenponchos an und ziehen weiter, der
unablässige Regen macht uns keine Angst, er ist ein Teil der
Natur wie die Sonne, der Mond und die Sterne. Zwei oder vier Stunden
später steigt die Wolkendecke und gibt eine märchenhafte
Almwiese frei, unmittelbar hinter ihr steigt bläulich weiß
ein bizarrer Hängegletscher in die Höhe. Wir müssen
also schon ziemlich hoch gekommen sein. Der Regen hat ganz aufgehört
und die Wolkenwand über uns bekommt Risse, durch die goldene
Sonnenstrahlen sickern. Der große Geist, der alles durchdringt
und dessen Wege der Mensch nur ahnen kann, hat diesen Zauber geschaffen.
Ein kalter Fallwind treibt mächtige Wolkengebilde wie eine
Schafherde vor sich her, die in alle Richtungen auseinanderstiebt,
während wir die Schneegrenze überschreiten. Wortlos treten
wir, uns in der Führung abwechselnd, eine Spur in den tiefer
werdenden Neuschnee, der uns nach kurzer Zeit bis unter die Knie
reicht. Hin und wieder kommt die Sonne hinter den Wolken hervor
und lässt die Schneedecke funkeln wie einen Teppich aus glitzernden
Diamanten. Um uns die Augen nicht zu verblitzen von soviel Glanz
setzen wir unsere Gletscherbrillen auf. Sobald Jose hinter mich
zurücktritt, um mir für eine Weile die Spurarbeit zu überlassen,
treibt mir der Wind spitze Schneekristalle ins Gesicht, die auf
der Haut prickeln wie tausend kleine Nadeln. Nachdem mich Jose wieder
vorne abgewechselt hat kann ich mich in seinen Windschatten ducken
und in der vorgetretenen Spur wieder Kräfte sammeln. So geht
es hin und her. Der Schnee zehrt an den Kräften, aber wir kommen
dennoch zügig voran und verlangsamen unser Tempo nur wenig.
Ein schneidend kalter Windstoss reißt meinen Poncho hoch und
wickelt ihn um meinen Hals, was Jose sehr lustig findet. Schweren
Schrittes und in der dünnen Höhenluft nach Atem ringend
nähern wir uns der Passhöhe, sie mag wohl auf etwa 5.300
Meter Meereshöhe liegen. Dann endlich sind wir ganz oben. Wir
entschließen uns zu einer kurzen Verschnaufpause und schauen
von der endlosen Schneewelt auf sich ins unendliche fortsetzende
Gebirge, die sich in alle Richtungen erstrecken. Ein wundersames
Märchenland fernab der Täler. Plötzlich sehen wir
von der gegenüberliegenden Passseite einen untersetzten Mann
in Sandalen auf uns zukommen, der durch Felsen vor uns verborgen
geblieben war. Auf dem Rücken trägt er eine schwere Last,
seine tief in die Stirn gezogene Inkamütze verdeckt die Hälfte
des Gesichts und der dicke erdbraune Wollpullover besteht fast nur
noch aus Flicken. Die dünne Wollhose reicht ihm nur bis knapp
unter die Knie, was nicht gerade die ideale Bekleidung für
dieses kalte Wetter sein kann. Wir stehen auf, nähern uns ruhig
und geräuschvoll, um dem in Gedanken versunkenen und sichtlich
müden Mann unsere friedliche Absicht zu demonstrieren anstatt
ihn unnötig zu erschrecken. Als er nahe genug heran ist grüssen
wir ihn, er kommt auf uns zu. Sobald er ohne sein Bündel abzunehmen
direkt vor uns steht bemerke ich erst, wie sehr der arme Kerl mit
den unbedeckten, vom Schnee zwetschgenblauen Waden in seiner leichten
Bekleidung friert. Er muss wohl aus irgendeiner wärmeren Gegend
kommen, in der warme Anziehsachen nicht oft gebraucht werden. Der
Mann ist einen guten Kopf kleiner als ich, also etwa 1,60m groß.
Sein Gesicht ist breit und von markanter Form, aber die Backenknochen
sind bei weitem nicht so hoch wie bei Jose, seine Haut ist wesentlich
heller als die eines Aymara und er wirkt trotz seiner kleinen Statur
behende und kräftig. Wir fragen ihn nach dem richtigen Weg.
Zuerst spricht er in Quechua, bemerkt aber seinen Irrtum sofort
an unseren fragenden Mienen und spricht in gebrochenem Spanisch
weiter. Die Quechua sind die Nachfahren der großen Inkas,
welche einst ein Weltreich regierten und unter denen die Aymaras
die unterdrückte Dienerklasse waren. Das hat sich nach Ankunft
der spanischen Conquistadores grundlegend geändert. Der Quechua
erklärt uns, wie weit wir seiner Spur folgen und wo wir talwärts
abbiegen müssen. Der Himmel hat uns diesen Mann zur rechten
Zeit geschickt, diese Information erspart uns lange Umwege. Wir
bedanken uns mit einer Maissemmel aus Jose's Rucksack, die dankend
angenommen wird. Dann ziehen wir in entgegengesetzter Richtung talabwärts.
Unsere Begegnung war so flüchtig wie der Schatten, den ein
vorüberfliegender Vogel auf einen Bergsee wirft. Wir wandern
in eine unergründliche Einsamkeit hinein. Die Stelle, wo wir
aus der in den Schnee getretenen Spur des Mannes ausscheren müssen,
ist bald gefunden, Jose ist sich aber dennoch nicht ganz sicher,
ob wir richtig sind. Jetzt gibt es niemand mehr, den wir fragen
können. Vorbei an glasklaren Gletscherseen, eingebettet in
eine wilde Hochgebirgslandschaft, steigen wir steil abwärts
und lassen den Schnee hinter uns. Sollten wir falsch abgebogen sein
bedeutet dies, dass wir irgendwann den ganzen langen Weg zur Spur
des Quechua zurückgehen und von neuem die Abzweigung suchen
müssten. Wir hoffen, dass wir uns das nicht antun brauchen,
es würde uns einen Tag kosten. Bei einem glucksenden Bach machen
wir Rast, es ist ja schon weit über Mittag. Wir packen das
Kaniawa Pulver aus und rühren uns mit Bachwasser einen dicken
schwarzen Brei, in den wir Zucker mischen. Als Dreingabe gönnen
wir uns jeder eine selbstgebackene Maissemmel aus Jose's Rucksack.
Um unseren Durst zu stillen haben wir Wasser in Fülle. Jemand,
der von europäischer Hygiene verwöhnt und nur Mineralwasser
gewöhnt ist darf unter keinen Umständen rohes Wasser trinken,
er würde schwer krank davon werden. Wir wissen das natürlich
und wenn wir mit Kunden unterwegs sind kochen wir alles ab und achten
auch sonst sehr auf Hygiene. Wenn wir allerdings unter uns sind
reisen wir ganz anders, es sieht uns ja niemand zu... Immer noch
unsicher wegen der eingeschlagenen Richtung brechen wir bald wieder
auf und steigen tief hinab in ein nicht enden wollendes Tal. Die
Wolken haben sich ganz verzogen und der freie Blick auf namenlose
Eisberge, die sich nach den für diese Jahreszeit außergewöhnlich
ergiebigen Niederschlägen in makellosem weiß zeigen,
ist überwältigend. Die Vegetation wird mit abnehmender
Höhe immer üppiger und grüner. Sind wir richtig?
Ein leiser Zweifel begleitet uns bei jedem Schritt. Plötzlich,
wie aus dem Nichts, tauchen ein paar Hütten vor uns auf. Wo
sind wir? Wir sehen einen Mann und eine Frau, die das Strohdach
ihrer Lehmhütte ausbessern. Sie bestätigen uns, dass wir
richtig sind und der Mann klettert extra vom Dach herunter, um uns
die Richtung, in der Calestia liegt, zu zeigen. Eine Stunde später
erreichen wir unser Tagesziel. Calestia wurde uns viel größer
geschildert und so haben wir es uns dementsprechend anders vorgestellt.
In der Realität besteht es lediglich aus vier bewohnten Lehmhütten,
einigen verlassenen Ruinen und einer stattlichen, halbverfallenen
Kirchenruine. Woher mag wohl die schwere Kupferglocke im Kirchturm
einmal gekommen sein? Wir können es uns nicht erklären
und sie kann uns ihr Geheimnis nicht erzählen. Als nächstes
benötigen wir dringend eine Bleibe für die Nacht. Ein
bisschen befangen gehen wir zwischen den Häuschen durch und
sehen uns um. Eine Quechua Familie mit drei halbwüchsigen Kindern
sitzt am unteren Dorfrand im Kreis um eine offene Feuerstelle vor
ihrer Hütte, zwischen ihnen und uns grast eine kleine Ziegenherde.
Wir gehen auf die Hütte zu, die Ziegen nehmen meckernd Reißaus,
in respektvollem Abstand bleiben wir stehen und Jose fragt höflich,
ohne die Stimme laut zu erheben, nach Quartier, während ich
stumm bleibe. Diese Vorgehensweise hat sich auf hunderten von Erkundungsfahrten
bewährt, in fremden Dörfern lässt es sich trotzdem
nie vorhersehen, wie du empfangen wirst. Ein großer schwarzer
Hund kommt von irgendwoher in vollem Lauf direkt auf uns zugeschossen,
ich halte den Atem an. Kurz vor mir bremst er ab und wedelt mit
dem Schwanz, womit er seine Freude über unser Kommen Ausdruck
gibt. Ich gebe es ungern zu, aber einen Moment lang bin ich fürchterlich
erschrocken, auch Jose schnauft erleichtert aus und lässt meinen
Arm los, den er schmerzhaft fest gepackt hielt. Der Hund springt
an mir hoch und leckt mir die Hände, worauf das Familienoberhaupt
lachend zu uns herüber grüßt. Das Eis ist gebrochen,
wie schön, wir sind willkommen. Der Mann hat tausend Fragen,
wir sind für ihn wie eine Zeitung mit Neuigkeiten aus der Außenwelt,
von der er lange nichts gehört hat. Soweit wir können
geben wir gerne Auskunft. Nach einem Restaurant brauchen wir gar
nicht erst zu fragen, aber Geronimo, so heißt der Familienvater,
lädt uns mit großzügiger Geste zum geselligen Abendessen
ein. Beim Essen tauen auch die bisher stummen Kinder, ein Mädchen
und zwei Jungs, auf. Die Frau hält sich zurück, wie es
Sitte ist, fragt uns aber doch hin und wieder dies und das. Die
gastfreundliche Familie und das kleine Feuer erzeugen Wärme,
eine Wärme, welche die Zentralheizungen moderner Städte
niemals vermitteln werden können. Das Klima ist in Calestia
bereits gemäßigt und dichtes Buschwerk umgibt das an
einem Hang liegende Dörfchen. Ein paar Meter vom Haus entfernt
sprudelt eine Quelle aus dem Boden und nicht weit unterhalb der
Hütte beginnt schon dichter Wald. Nach dem Abendessen stellen
wir unser Einmann Zelt auf. Es ist zwar klein, aber wir haben unseren
zweiten Wohnsitz genauso lieb wie ein Sesshafter sein Ferienhäuschen.
Das Glück auf großen Wegen zu Fuß liegt in der
Einfachheit. Was würden wir hier mit einem großen Zelt
anfangen, welches nur eine unnütze Last auf einem beschwerlichen
Weg bedeutete? Wenig ist für einen Nomaden gleichbedeutend
mit viel. Geronimo zündet trockenen Ziegendung an, um mit dem
sich entwickelnden Rauch die Mücken zu vertreiben während
Jose und ich den zutraulichen Hund mit handgreiflichen Argumenten
dazu überreden draußen vor dem Zelt zu bleiben und uns
schlafen legen.Es beginnt zu dunkeln, eine Weile liegen wir noch
bei geöffnetem Eingang wach im Zelt und lassen die Nacht auf
uns einwirken. Der Himmel ist sternenklar. Wir haben heute eine
sehr weite Wegstrecke mit 4.600 Höhenmetern im Auf- und Abstieg
zurückgelegt und können mit dieser Leistung zufrieden
sein.
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