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Die
Vorstellung von den letzten Paradiesen der Erde entspricht schon
lange nicht mehr der Vorstellung eines Einzelnen. Stattdessen ist
sie zu einer Floskel der Tourismusbranche geworden. Kathegorie in
einem Reisekatalog wie >>Hauptstadt
des Handwerks<< oder >>kulturelles
Mekka<<. Die individuelle Erfahrung
bleibt das Problem des Einzelnen. Als hoffnungsloser Romantiker
habe ich mein Leben lang zu Fuß nach Orten gesucht, von denen
die großen Macher keine Ahnung haben und die kein Reisehandbuch
kaputt schreibt. Wie und warum es mich in den Andenstaat Bolivien
verschlug ist eine lange Geschichte. Jedenfalls lebe ich einen Teil
des Jahres dort. Seit 15 Jahren führe ich zahlende Kunden durch
die Wildnisse und auf die hohen Berge Boliviens. Meine liebsten
Trekks verlaufen weitab des Mainstream und sind nur wenigen bekannt.
Um kontinuierlich dort führen zu können, wo andere Touranbieter
nicht sind, entwickle ich ständig neue kreative Ideen. Dazu
gehört unter anderem, dass ich jedes Jahr mindestens eine unbekannte
Route auschecke. Manche Touren aus meinem umfangreichen Repertoire
eignen sich, um sie einem zahlenmäßig beschränkten
Personenkreis als Trekk anbieten zu können, andere erweisen
sich als ungeeignet und landen in meinem großen Archiv mit
über 100 verschiedenen Touren. Da ist für jeden etwas
dabei, ob Anfänger oder Profi. Mit meinem in Jahrzehnten erworbenen
Insiderwissen ist es nicht nötig, eine einzelne Route zu stark
zu beanspruchen, ich wechsle oft durch, um den ursprünglichen
Charakter der Trips zu erhalten. Nach der Führung eines zweiwöchigen
weltweit bekannten Trekks nahe der Millionenstadt La Paz bleiben
mir 12 Tage freie Zeit, um eine neue Route zu erkunden bevor die
nächste Führungsarbeit wartet.
Meine persönliche
Ausrüstung ist schon in einem kleinen Rucksack verstaut: Einmannzelt,
kleiner Biwakschlafsack, leichtes Regenzeug, Ersatzhemd, zweite
Unterhose, Ersatzsocken, kleiner Spirituskocher, kleiner Teekessel,
die nötigste warme Bekleidung für die Anden bzw. zum Anziehen
im Schlafsack in kalten Nächten und ein paar Kleinigkeiten
mehr. Was noch fehlt sind der Kochertreibstoff und die Verpflegung.
Als Brennstoff kaufe ich an der nächsten Straßenecke
einen halben Liter 98 prozentigen Alkohol >>nur
zur äußerlichen Anwendung<<,
wie auf der Flasche empfohlen wird. Man kann das Zeug auch trinken,
was aber nicht so mein Ding ist. Die Verpflegung kaufe ich in einer
anderen Strasse: drei Kilogramm Pita de Kaniawa, ein Hunger stillendes
bolivianisches Getreidepulver und ein Kilogramm Zucker. Mit kaltem
Wasser angerührt und mit Zucker gestreckt genügt Kaniawa
eine zeitlang als extrem leichter und nahrhafter Proviant. Mein
gepackter Rucksack wiegt lediglich acht Kilogramm. Das ungewöhnlich
leichte Gepäck wird mich unterwegs schnell machen und es ist
im Nu gepackt. Dafür werde ich jedoch auf meinem Routenprojekt
mit einem gerade noch akzeptablen Minimum an Komfort auskommen müssen.
Jetzt fehlen
nur noch die Busfahrkarten zum Ausgangspunkt. In den engen, verwinkelten
Kopfsteinpflastergassen von La Paz wimmelt es vor Menschen und Marktständen.
Vom Tampon über Taschentücher bis zur Computersoftware
gibt es alles zu kaufen was man braucht oder nicht braucht - man
muss nur wissen in welcher Strasse. La Paz ist bunt, laut, verrückt
und ständig bricht der Verkehr zusammen. Die Abgase im Zentrum
werden von den Passanten auf einer atemberaubenden Höhe von
3.600 Meter über dem Meeresspiegel tief inhaliert. Es ist nicht
unbedingt meine Welt, aber ich habe gelernt, mich hier zurechtzufinden.
Hoch droben im El Alto, dem mit 4.100 Meter höchstgelegenen
Stadtteil, bekomme ich zwei Sitzplatz-Fahrkarten nach Agua Blanca,
meinem weit entfernten Reiseziel. Ein nicht ortskundiger findet
das versteckte Büro der privaten Busgesellschaft nie, auch
nicht durch fragen. Typisch La Paz: Man muss den Ort einfach kennen.
Vom El Alto sieht man weit hinunter in den wüstenähnlichen
Talkessel von La Paz mit seinem Häusermeer. Innerhalb der Stadt
sind 1.000 Höhenmeter per Taxi oder Bus keine Seltenheit, auch
das ist ein Superlativ dieser höchstgelegenen Millionenmetropole
der Welt. Eine Fahrkarte ist für mich, die zweite für
den Aymara Indio José Lazo, den ich eigentlich heute treffen
hätte wollen. Wir sind schon seit Jahrzehnten sehr gute Freunde.
Anstatt mich in La Paz zu treffen, muss Jose ausgerechnet heute
an einer Bürgerversammlung seines Heimatdorfes Quirambaya,
auf denen viel geredet und nichts gesagt wird und die er für
völlig überflüssig hält, teilnehmen. Jose fehlte
heuer bereits zweimal und diesmal müsste er eine empfindliche
Geldstrafe zahlen, wenn er nicht hinginge. Das zwingt ihn, morgen
früh um 4:00 Uhr den ersten Nachtbus vom Kolonialstädtchen
Sorata zum Verkehrsknoten Achacachi zu nehmen, wo wir uns dann treffen
wollen. Wird das klappen? Falls er zu spät kommt werde ich
nicht auf ihn warten können. Ich gehe ziemlich früh zu
Bett. Bevor ich kopfüber in die schwarze Höhle tiefen
Schlafes stürze dringt als letzter bewusster Eindruck dieser
nie versiegende Straßenlärm von La Paz in mein Unterbewusstsein.
Morgens um halb
sechs, der klare Nachthimmel ist sternenübersät, stehe
ich vor dem Busbahnhof Pelechuco, wo bunt durcheinandergewürfelte
Reisende in der Morgenkälte von El Alto um die Wette zittern.
Es beginnt zu dämmern, bis wir losfahren. Also eine reguläre
Verspätung, eigentlich sind wir sogar sehr pünktlich.
Der Bus ist so voller Menschen, dass er aus allen Nähten zu
platzen zu platzen scheint. Ich bin der Einzige >>Gringo<<,
wie in Bolivien der weiße Mann genannt wird, denn diese Buslinie
liegt nicht auf den ausgetretenen >>Gringo
Trails<<. Alles erscheint furchtbar
chaotisch, aber wie durch Zauberei oder mittels eines dem Europäer
unerkennbaren Systems funktioniert es auf wundersame weise doch.
Der Bus fährt übers Altiplano, der größten
Hochebene der Welt, von der Morgensonne rosa angehauchte Gletscherriesen
der nördlichen Königskordillere huschen am Fenster vorbei.
In Achacachi steht ein frierender Aymara Indio am Straßenrand
und winkt. Die Bustüre geht auf und er lugt mit ernster Miene
herein. Es ist José! Als er mich erkennt huscht ein lächeln
über sein Gesicht - wir haben uns gefunden. Zuerst mal ruft
der Fahrer >>Mittagessen<<,
es ist noch früh am Morgen. Später wird es auf der nur
dünn besiedelten Strecke mangels Gelegenheit lange nichts mehr
geben. Wir folgen den anderen Fahrgästen, alle zusammen fallen
wir wie ein Bienenschwarm in einem Restaurant neben der Strasse
ein, das um diese Zeit schon geöffnet ist. 40 Minuten danach
sitzen oder stehen die Fahrgäste erneut auf ihren Plätzen
und die Reise geht weiter. Landschaftlich großartig fahren
wir am dünn besiedelten Ostufer des Titicacasees entlang, dann
biegen wir bei Carabucco östlich ab und der Bus schnauft steil
hinauf in menschenleeres Andenhochland. Im Ulla Ulla Nationalpark
grasen riesige Lama- und Vicunaherden (die Urform von Lama und Alpaka)
beiderseits der Strasse auf Weideflächen ohne Anfang und Ende.
Stunde um Stunde holpern wir dahin, dösen, schauen aus dem
Fenster oder ratschen. >>Privattransport
empfehlenswert<< notiere ich mir wegen
der klaustrophobischen Enge im Bus in mein Notizheft. Es fahren
auch Tiere mit, das ist nicht jedermanns Sache, gehört aber
eigentlich dazu. Die Landschaft zieht weit und menschenleer am Busfenster
vorbei und am Horizont recken weiße Gletschergebirge ihre
kalten Finger in den tief dunkelblauen Andenhimmel: Die Apolobamba
Kordillere. >>Sind wir eigentlich noch
in Bolivien?<< fragt José auf
einmal zweifelnd. Die Landschaft mutet so fremd an, dass er darin
sein eigenes Heimatland nicht wiederfindet. Ich erkläre ihm
den bolivianisch-peruanischen Grenzverlauf, der vom 6.000er Chaupi
Orco und einer Reihe von 5.000ern markiert wird. Im
Militärstützpunkt Ulla Ulla steigen 30 Leute aus, das
bedeutet endlich Platz um sich ein wenig strecken zu können.
Stunde um Stunde zerfließt, im Lauf des Nachmittags ziehen
dunkle Schlechtwetterwolken auf , die irgendwann den Bus einhüllen.
Jegliches Zeitgefühl vergeht.
Nach 12 Stunden
Fahrt steigen wir kurz vor Einbruch der Nacht an einer Haltestelle
im Nichts aus. Es beginnt zu nieseln und wir erkennen verschwommen
die Konturen einer Ansammlung von Lehmhütten: Das Dorf heißt
Agua Blanca, es liegt 3.900 Meter über dem Meeresspiegel. Wie
eine Offenbarung erscheint plötzlich ein hübsches junges
Quechua Mädchen in Tracht aus dem Nebel und grüßt
uns scheu. Wir fragen sie höflich nach einem Quartier. Sie
bringt uns zu ihrer Mutter. Die schlanke, kräftige Frau mit
rotem Poncho und in Sandalen an den nackten Füßen hat
ein herbes aber wohl geformtes Gesicht mit zwei lebhaften rehbraunen
Augen und ist sehr klein. Sie gibt uns in einer José und
mir unverständlichen Sprache sowie durch Gesten zu verstehen,
dass wir ihr folgen sollen. Wir verstehen auch ohne Worte was sie
will. Während wir hinter ihr herlaufen, fallen mir ihr langer,
pechschwarzer Zopf und ihr flinker, katzenartiger Gang auf. Wir
werden von ihr zu einem für die Abgelegenheit von Agua Blanca
erstaunlich komfortablen Haus gebracht, in dem sie uns alleine zurücklässt.
In der Küche dürfen wir uns ein schmackhaftes Abendessen
aus Resten kochen. Spät abends besuchen uns zwei Männer
aus dem Dorf, die gute Ortskenntnisse haben und Spanisch sprechen.
Wir fragen sie nach unserem Weg, wobei sich herausstellt, dass diese
ursprünglich geplante Route verworfen werden muss. Als ich
das letzte mal in dieser Gegend, ein Stück weiter unterhalb,
in Pelechuco, zu tun hatte, wurde mir der Weg, den es schon seit
20 Jahren nicht mehr gibt, in den schillerndsten Farben beschrieben.
Man versichert uns glaubhaft, dass dort kein Durchkommen ist. Die
Angaben von denen ich ausging sind alle falsch gewesen, aber es
hilft im Augenblick auch nichts, darüber zu lamentieren. Juan
und Rodolfo, so heißen die beiden sympathischen Quechua Indios,
beschreiben uns die ungefähren Stationen einer alternativen
Route, die zum gleichen Zielort führt und sich vielversprechend
anhört: Von Agua Blanca über den >>Bärenweg<<
nach Calestia, dann weiter nach Mojos, von dort über eine befahrbare
Schlaglochpiste nach Tuichi, dann weiter in die Kreisstadt Apolo,
einem Zentrum des Cocahandels. Sie geben zu, dass sie den Weg nur
bis Calestia kennen, wo er eigentlich gerade erst beginnt. Aber
diese Anhaltspunkte genügen fürs erste. Jetzt erst fällt
mir auf, dass Jose Straßenschuhe trägt. >>zwei
Paar Schuhe mitzunehmen ist doch völlig unnötiges Gewicht,
wir gehen doch nicht auf eine Tanzveranstaltung<<
tadle ich ihn. >>Ich habe in der Eile
des nächtlichen Aufbruchs meine Laufschuhe in Quirambaya vergessen<<
gibt Jose kleinlaut zu. Jose braucht 40 getrabte Minuten von Quirambaya
zur Bushaltestelle in Sorata - es ist mir allerdings ein Rätsel,
wie man da nicht an seine guten Schuhe denkt! Auf diesen Versammlungen
wird immer viel getrunken, das würde die Sache vielleicht erklären.
Eine Schuldfrage ist jetzt nicht von Bedeutung, das ändert
am Sachverhalt auch nichts. Die abgelatschten Straßentreter
können jedenfalls die vor uns liegenden strengen Marschtage
keinesfalls aushalten, sie fallen schon fast von alleine auseinander.
In Agua Blanca gibt es keinen Gemischtwarenladen und ob wir in Pelechuco,
dem nächsten und letzten Dorf für längere Zeit, Turnschuhe
kaufen werden können wissen Juan und Rodolfo nicht. Wir bedanken
uns herzlich bei den beiden gastfreundlichen Quechua, bezahlen das
Quartier, verabschieden uns und gehen zu Bett. Tief in der Nacht
schlägt ein böser Platzregen auf das Blechdach des Hauses
wie unablässige Trommelwirbel. Hoffentlich wird das Wetter
wieder besser!
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